Es geht wieder los! Zum 16. Mal startet ALFILM – Arabisches Filmfestival Berlin. Die diesjährige Ausgabe findet in turbulenten Zeiten für die arabische Region statt. Verheerender Gewalt, neuen Vertreibungswellen und anhaltender wirtschaftlicher und politischer Instabilität stehen entschlossener Widerstand und Hoffnung auf Neuanfänge gegenüber. Die Filme der ALFILM Selection setzen sich mit den Herausforderungen auseinander, mit denen sich arabische Communities in der Region und in der Diaspora konfrontiert sehen, und geben gleichzeitig dem Streben nach Veränderung, Befreiung und Überleben eine Stimme. Die Filmauswahl setzt sich dabei aus einem breiten Spektrum an Spielfilmen, Dokumentationen und drei Kurzfilmprogrammen zusammen.
Die schwierige Lage des sudanesischen Volkes – dessen revolutionäre Hoffnungen unter der Last eines grausamen Krieges, der fast 10 Millionen Menschen vertrieben hat, brutal vereitelt wurden – steht im Mittelpunkt von Hind Meddebs poetischer Dokumentation Sudan, Remember Us. Mahmoud Nabil Ahmeds Gazan Tales bietet intime Einblicke in das alltägliche Leben der Palästinenser:innen in Gaza kurz vor Ausbruch des israelischen Krieges, der das Gebiet in Schutt und Asche legte, mehr als 50.000 Menschen tötete und die fast gesamte Bevölkerung vertrieben hat.
Scandar Coptis brillant geschriebener Spielfilm Happy Holidays zeigt Machtlosigkeit und Verlust von Kontrolle anhand einer palästinensischen Mittelschichtfamilie in Israel, die sich an ihre Privilegien klammert um so die Illusion eines „guten Lebens“ aufrecht zu erhalten. Copti macht deutlich, dass die Befreiung aus dem normativen Griff des bürgerlichen Patriarchats und die Befreiung von der militärischen Gewalt, die die strukturelle Ungleichheit der Palästinenser:innen aufrechterhält, nicht von einander getrennt werden können. Der libanesische Film Moondove von Karim Kassem spielt zwar in einem anderen Kontext, deutet aber ebenfalls auf einen Zustand der Machtlosigkeit hin – oder besser gesagt, auf eine bereitwillige Kapitulation vor einem allgegenwärtigen Gefühl des Verfalls und des Verlusts, das sowohl die Menschen als auch die Natur betrifft: Ein Zustand, der durch das Versagen des libanesischen Staates, den Bewohner:innen eines ländlichen Gebiets grundlegende Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, noch verschärft wird.
Der Krieg, der den Libanon im letzten Jahr heimsuchte und zu verheerenden Verlusten an Menschenleben und der Zerstörung ganzer Stadtviertel führte, findet sich auch in der diesjährigen ALFILM Selection wieder – wenn auch aus einer sehr unkonventionellen Perspektive. In A Frown Gone Mad von Omar Mismar teilen die Kund:innen eines Schönheitssalons, der auf Botox und Filler spezialisiert ist, ihre Gedanken über den drohenden Krieg in Form von persönlichen Geschichten und Anekdoten. Diese ungewöhnlichen, aber fesselnden Gespräche offenbaren ein unnachgiebiges Durchhaltevermögen im Angesicht von Widrigkeiten und unerbittlichen Krisen. Für manche bleibt selbst in den schwierigsten Momenten des Lebens immer noch genügend Zeit, die „Spuren der Zeit“ zu glätten.
Der Schrecken der niedergeschlagenen Revolutionen in Tunesien und Ägypten sowie die unerfüllte Sehnsucht der leidenden Mehrheitsbevölkerung beider Länder nach einem menschenwürdigen Leben spiegeln sich in aktuellen Filmproduktionen wieder. Durch nuancierte Erzählformen entzieht man sich dabei dem Druck der zunehmenden Zensur. In dem tunesischen Spielfilm Red Path stellt Lotfi Achour die Gleichgültigkeit des Staates durch bewusste Ignoranz und Abwesenheit in den Vordergrund, der die armen Bewohner:innen des Mghila-Gebirges nicht vor der ständigen Bedrohung durch Landminen und der Gewalt militanter Dschihadisten, die das Gebiet kontrollieren, schützt. Die Handlung des Films entfaltet sich in traumhaften Bildern und malerischen Kompositionen, die mit bemerkenswerter Präzision wiedergegeben werden. In dem ägyptischen Spielfilm Seeking Haven for Mr. Rambo von Khaled Mansour leben die Hauptfiguren, Hasan und sein Hund Rambo, in einer von Grausamkeit geprägten Welt, in der die Mächtigen die Regeln diktieren und die Schwachen mit Füßen getreten werden. Von der Räumung ihres Hauses bedroht, begeben sie sich auf der Suche nach Rettung auf eine aufregende Reise, die die erschreckende Realität des heutigen Ägyptens, in der ein Großteil der jungen Generation unter der Last von Armut, Angst und Perspektivlosigkeit lebt, beleuchtet. Ägyptens Straßenhunde mögen ein jämmerliches Leben führen, aber wenigstens hat Rambo eine Chance zu entkommen.
Ein zentrales Thema mehrerer Dokumentationen der diesjährigen ALFILM Selection – allesamt Erstlingswerke ihrer jeweiligen Regisseur:innen – ist der Drang der Filmemacher:innen, die Geschichte ihrer eigenen Eltern und Familien zu ergründen und die Verflechtungen zwischen dem persönlichen und dem weiteren soziopolitischen Kontext, in dem sie leben, aufzuzeigen. Bassam Mortada mit Abo Zaabal 89, Farah Kassem mit We Are Inside und Leila Albayaty mit From Abdul to Leila versuchen in ihren Filmen, eine Verbindung zu ihren Vätern herzustellen, und kämpfen sich dabei durch Traumata, verlorene Träume und unausgesprochene Geheimnisse – ob in Kairo, Tripolis oder Bagdad. Albayaty reflektiert die Migrationsgeschichte ihrer Familie und ihre eigene, ebenso wie Samira El Mouzghibati, die in (Y)our Mother die nicht ausgesprochenen Dimensionen der Migration ihrer Eltern von Marokko nach Belgien untersucht – eine Erfahrung, die einen langen Schatten auf das Leben aller Familienmitglieder wirft und die Beziehungen zu anderen und zueinander prägt. Im Mittelpunkt der Handlung steht ihre Mutter. Ihr Schweigen, ihre Melancholie und die Schwere in ihrem Gesicht scheinen Ausdruck einer generationenübergreifenden Verletzung zu sein.
Auch wenn das Jahr von einer Vielzahl tragischer Ereignisse geprägt war – von den anhaltenden Massakern und humanitären Krisen in Gaza und im Sudan bis hin zu den immer wiederkehrenden Konflikten im Libanon, in Syrien und im Jemen – so gab es eine wichtige Entwicklung, die der Region einen Hoffnungsschimmer ermöglicht: der Sturz des Assad-Regimes in Syrien nach einem brutalen Krieg, der das Land verwüstet und einen Großteil der Bevölkerung vertrieben hat. Anas Zawahris My Memory is Full of Ghosts lädt uns ein, uns mit den verschiedenen Ebenen physischer und emotionaler Zerstörung auseinanderzusetzen, die der syrische Krieg der historischen Stadt Homs und ihren Bewohner:innen zugefügt hat. Der Film verwebt auf poetische Weise die Berichte mehrerer Protagonist:innen, die an einem Ort, der voller Geister zu sein scheint, mit ihrem Gefühl für Zeit und Raum ringen. Somalia ist ein weiteres arabisches Land, das schon seit langem von Naturkatastrophen, ethnischen Konflikten und einem langwierigen Bürgerkrieg heimgesucht und dabei sowohl von arabischen als auch westlichen Medien weitgehend ignoriert wird. Mo Harawes Film The Village Next to Paradise bietet ein ergreifendes Porträt der schwierigen Lebensbedingungen im Land und weist subtil auf die Mitschuld der imperialen Mächte an der Verschlimmerung des Leidens der Bevölkerung hin.
Sowohl der Eröffnungs- als auch der Abschlussfilm des Festivals – To a Land Unknown von Mehdi Fleifel und Yunan von Ameer Fakher Eldin – sind Meisterwerke, die einen Zustand untersuchen, der die moderne arabische Existenz weiterhin überschattet: die Diaspora. Während Fleifels Film die Tragödie palästinensischer Geflüchteter beleuchtet, die in einem existenziellen Schwebezustand vor den Toren Europas feststecken, in dem jeder Versuch, hoffnungsvoll zu sein, unvermeidlich zu scheitern scheint, fängt Yunan das Leid eines im Exil lebenden arabischen Mannes aus der Mittelschicht ein, der, von Entfremdung geplagt, in den Erinnerungen an eine Heimat verharrt, die nicht mehr existieren kann.
In den vergangenen 16 Jahren hat sich ALFILM immer wieder mit Visionen, Ambitionen und der Hoffnung auf Veränderung, Befreiung und Wandel in unseren Communities – sowohl in der Region als auch in der Diaspora – auseinandergesetzt. Mit einer unersättlichen Leidenschaft für Gerechtigkeit und einer unbändigen Liebe für die Kunst des Kinos schaffen wir weiterhin Räume für Reflexion, Widerstand und Verbundenheit. Wir freuen uns darauf, diese Mission auch in diesem Jahr wieder mit unserem Publikum in Berlin zu teilen – und das auch noch viele weitere Jahre lang.
Künstlerischer Leiter
Iskandar Abdalla