ALFILM SPOTLIGHT

 

 

Ghosts, Griefs, and Lost Dreams

Visions of the City in Arab Cinema

 

Algier, Kairo, Beirut oder Damaskus sind alles Städte, die in den letzten zwei Jahrhunderten enorme Veränderungen durchgemacht haben, die die Ambiguitäten der Moderne selbst verkörpern: von der kolonialen Aufteilung bis hin zu postkolonialen Versuchen, urbane Kultur wieder anzueignen; von Versuchen, arabische Städte an eine kapitalistische, auf europäische Märkte ausgerichtete Wirtschaft zu assimilieren, bis hin zu sozialistischen Utopien der Industrialisierung und schließlich zu einer neoliberalen Umgestaltung der Städte, die zu einem noch nie da gewesenen Maß an sozialer Ungleichheit geführt hat. Arabische Städte wurden bombardiert, überfallen, durch Putsche und Bürgerkriege zerrissen, durch Vertreibungs- und Migrationswellen neu geformt, durch umstrittene Visionen der Restauration umgestaltet, von politischer Unterdrückung unterwandert und von Angst bewohnt. Gleichzeitig waren ihre öffentlichen Plätze Zeugen von Revolutionen, die Diktatoren stürzten und verschiedene Formen des Widerstands und des Kampfes für Gerechtigkeit und Freiheit zum Ausdruck brachten.

Das arabische Kino war schon immer ein wichtiger Wegbegleiter dieser Dynamik. Es diente als Instrument der Dokumentation des städtischen Wandels und um dessen Auswirkungen und Konsequenzen zu bezeugen. Gleichzeitig spielt es eine wesentliche Rolle bei der Festlegung der Merkmale des modernen städtischen Lebens, beim Ausmalen der Vergangenheit und beim Entwerfen der Zukunft von Städten. Wie werden Städte im arabischen Kino dargestellt? Wie wurden sie gedacht, inszeniert und als Erzählerinnen eingesetzt? Und wie haben arabische Filmemacher:innen urbane Phänomene charakterisiert, sich ihnen angenähert und sich kritisch mit den Veränderungen der Stadt, mit ihrer Zerstörung und ihrem Wiederaufbau, mit Verlusten, Vermächtnissen der Verdrängung und dem urbanen Nachspiel von Revolutionen auseinandergesetzt? Das 14. ALFILM Spotlight, widmet sich diesen Fragen in einem Programm, das sich der Repräsentation von arabischen Städten in klassischen und zeitgenössischen Filmproduktionen widmet.

Seit seinen Anfängen hat das ägyptische Kino den Prozess der Urbanisierung und die damit verbundenen Lebensweisen dokumentiert und die Wahrzeichen Kairos für eine nationale Mythenbildung genutzt. Die Faszination für das urbane Leben war jedoch gepaart mit einer Skepsis gegenüber seinen Folgen und einem Abschied der Unschuld, die von der sich beschleunigenden Bewegung der Moderne mit Füßen getreten wurde. Ḥayah aw Mawt oder Life or Death von Kamal al-Shaikh (1955) war der erste arabische Spielfilm, dessen Szenen – in Anlehnung an den italienischen Neorealismus – mehrheitlich nicht in Studios, sondern in den Straßen von Kairo gedreht wurden. Obwohl der Film die urbanen Manifestationen der Moderne in einer Zeit des Wachstums feiert, die durch den Aufstieg von Gamal Abdel-Nasser an die Macht herbeigeführt wurde, erscheint Kairo in dem Film als ein riesiges Labyrinth voller Risiken und Übeln, als eine Stadt, die das Leben an den Rand des Todes treibt.

Youssef Chahines kürzlich restaurierter Film Dawn of a New Day oder Fagr Youm Gedid (1965) ist eine Hommage an die städtische Metamorphose des Kairos der 60er Jahre. Der Film lässt eine optimistische Zukunft erahnen, die von den sozialistischen Reformen der Nasseristen versprochen wurde, und zeigt gleichzeitig den unvermeidlichen Verfall der bürgerlichen Eliten der Stadt. Dies geschieht in Form einer unmöglichen Liebesgeschichte zwischen Tarek, einem jungen Studenten, und einer viel älteren bourgeoisen Dame, die unter der Langeweile eines bedeutungslosen Lebens leidet und ihre unausweichliche Lebensdämmerung im Geist ihres Geliebten widergespiegelt sieht. Ihre Liebesgeschichte wird in Panoramaszenen inszeniert, die durch die modernen Wahrzeichen Kairos wandern. Die von Chahine anvisierte urbane Utopie der 60er Jahre entpuppt sich in Tamer El Saids In the Last Days of the City (2016) jedoch als realistische Dystopie. Khaled, ein Filmemacher und der Hauptprotagonist des Films, scheint in einem ständigen Zustand der Ohnmacht gefangen zu sein. Seine Bemühungen, die Stadt einzufangen, scheitern. Er steckt fest zwischen persönlichen Erinnerungen und kollektivem Leid, das von Kairo bis in andere arabische Städte wie Bagdad und Beirut reicht, angesichts der unzähligen Formen von Gewalt, die diese Städte beherrschen. Die Vorführung des Films wird von einer Master Class mit dem Regisseur Tamer El Said über Möglichkeiten und Herausforderungen des Filmens (in) der Stadt begleitet.

Der Bürgerkrieg im Libanon und seine weitreichenden Auswirkungen haben Beirut, gefangen zwischen Leben und Tod, jahrzehntelang zu einer Geisterstadt gemacht. Jocelyne Saabs Beirut, My City (1982) führt uns zurück in die frühen Jahre des libanesischen Bürgerkriegs und reflektiert auf poetische Weise das Ausmaß der Schäden und die entstandenen Ruinen der Stadt. Sowohl Feyrouz Serhals Tshweesh (2017) als auch Nadim Mishlawis After the End of the World (2022) beschäftigen sich mit den schwer greifbaren Nachwirkungen des Krieges, die sich in der andauernden urbanen Krise des heutigen Beirut zeigen.

In Muhammad Malas Klassiker Ahlam al-Madia oder Dreams of a City (1983) scheint Gewalt angesichts des Patriarchats und der politischen Unterdrückung ein immanenter Zustand zu sein. Malas porträtiert die Altstadt von Damaskus in den 1950er Jahren, einer turbulenten Zeit der politischen Instabilität. Im Film begleiten wir Deeb (Basel al-Abyad) auf seinem Weg des Erwachsenwerdens und werden Zeuge, wie die grausame Realität der Stadt seine Träume in Albträume verwandelt.

Die Grausamkeiten des andauernden Krieges in Syrien und die daraus resultierenden Vertreibungswellen haben das tägliche Leben der Stadtbevölkerung in Damaskus und anderen syrischen Städten grundlegend verändert. Viele syrische Filmemacher:innen, die in der Diaspora leben, sahen sich daher gezwungen, ihre Heimatstädte in neuen Kontexten und Konfigurationen neu zu denken. In Damascus Dreams (2021) stellt die Regisseurin Émilie Serri durch intime Gespräche mit Syrer:innen, die nach Kanada vertrieben wurden, eine Verbindung zur Heimatstadt ihres Vaters, Damaskus, her. Der Film ist darauf ausgerichtet, durch die Rekonstruktion von Erinnerungen und Empfindungen eine verlorene Stadt performativ neu zu inszenieren.

Im Rahmen des diesjährigen Spotlight-Programms werden ausgewählte Filmschaffende eingeladen, in einem Panel mit dem Titel The Arab City Re-envisioned: Exilperspektiven über die Möglichkeiten zu diskutieren, ihre Heimatstädte trotz Entfernung, Vertreibung und erzwungenem Exil neu zu denken und zu gestalten. Das Panel wird darüber hinaus versuchen, die rechtlichen und politischen Hindernisse zu erörtern, mit denen Filmschaffende konfrontiert sind, wenn sie in arabischen Städten drehen wollen.

Palästinensische Filmemacher:innen setzen ebenfalls auf ihre Vorstellungskraft und schaffen das Unmögliche; eine palästinensische urbane Ordnung zu konstruieren. In Port of Memory (2010) hält Kamal Aljafari nostalgisch an den Überresten einer verlorenen Vergangenheit fest, um sich dem Wirken der israelischen Besatzung, der Gentrifizierung und der Neoliberalisierung zu widersetzen. Der Film fängt in einer kraftvollen Sprache die Rituale der Stadt, die alltägliche Präsenz ihrer Bewohner:innen und deren Kampf gegen die drohende Verdrängung und das drohende Verschwinden ein. Tarzan & Arab Nasser zollen in Gaza Mon Amour (2020) der Macht der Liebe Tribut, welche die Möglichkeit des Träumens in einer Stadt, in der das Leben selbst durch die anhaltende Besatzung fast unmöglich wird, aufrechterhält. Der Film ist kein objektives Dokument der Realität in Gaza, sondern will eine märchenhafte Welt zeigen, in der die Liebe alternative Möglichkeiten des Lebens in der Stadt schaffen kann.

Das Erbe des Kolonialismus, die nachfolgenden korrupten Regime und politische Krisen haben das soziale Gefüge vieler Städte der Maghreb-Region auf radikale Weise geprägt. Vor allem Frauen und die arme Stadtbevölkerung litten unter übermäßiger Arbeitslosigkeit und sozialer Stratifizierung und waren expliziten als auch impliziten Formen von (geschlechtsspezifischer) Gewalt ausgesetzt. Dies führte dazu, dass sich viele von ihnen radikalen Ideologien hingaben und andere ihr Leben riskierten, um ihr Land zu verlassen. Ali Zaoua: Prince of the Streets (2000) von Nabil Ayouch beleuchtet die dunkle Welt der Gangster in der marokkanischen Küstenstadt Casablanca. Er erzählt die Geschichte einer Gruppe obdachloser Heranwachsender, die unter schwierigsten Bedingungen in den ärmsten und gewalttätigsten Vierteln der Stadt kämpfen. Viva Laldjérie (2004) von Nadir Moknèche zeigt die Reise zweier Frauen auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben in Algier. Die Mutter strebt danach, ihre verlorene künstlerische Grandeur wiederzuerlangen, und die Tochter erkundet die Horizonte der Liebe in einer Stadt, die von korrupten Männern beherrscht und von der Bedrohung des Terrors überschattet wird. Last but not least wird das Spotlight-Programm mit einem atemberaubenden Stadtthriller aus Tunesien eröffnet. Ashkal von Youssef Chebbi knüpft an die Traditionen des Film Noir an und schildert in herausragender Virtuosität mysteriöse und mörderische Ereignisse, die sich zunächst an einem verlassenen Ort im Brachland ereignen, bevor sie sich in der ganzen Stadt ausbreiten und die Geister einer bevorstehenden Revolution heraufbeschwören.

Filme des 14. ALFILM SPOTLIGHT

Ashkal

Ashkal

> 27.4.2023 | 19.00 | Kino Arsenal
>> 28.4.2023 | 19.30 | Kulturbrauerei 5
Nation Estate

Nation Estate

> 30.04.2023 | 17.00 | Arsenal

Double Feature mit Port of Memory
Port of Memory

Port of Memory

> 30.04.2023 | 17.00 | Arsenal

Double Feature mit  Nation Estate